aus: Ervin Lázár, Die siebenköpfige Fee
 

DIE RAUPE AUF DEM BAUM

Einmal blieb eine Raupe auf einem Baum stecken. Auf dem obersten Ast eines ganz schön hohen Baumes. Und sie weinte, wimmerte und schrie zum Gotterbarmen.
Sie war eine schöne Raupe. Abwechselnd rot und blau gestreift. Und natürlich auch noch mit gelben. Ihre Augen waren wie zwei Rubine. Oder drei Rubine, weil ich nicht genau weiß, wie viele Augen die Raupe hatte. Aber ob zweiäugig oder dreiäugig, sie war wunderschön. Obwohl sie gerade mit beiden (oder mit drei) Augen weinte. Pitsch, patsch, fielen die Tränen. Oder pitsch, patsch, putsch für den Fall, daß sie drei Augen hatte.
Übrigens waren ihre Tränen auch schön. Vielleicht waren es sogar die Tränen, die am schönsten waren.
"Jemand brüllt" brummte der Bär.
"Jemand schreit" heulte der Wolf.
"Jemand wimmert" meckerte die Ziege.
"Jemand heult" rief der Fuchs.
"Jemand schluchzt" stammelte der Hase.
"Jemand wehklagt" ächzte der Dachs.
"Jemand jammert" piepte die Maus.
"Jemand tränkt die Mäuse mit seinen Tränen" sagte der Bockkäfer.
"Jemand weint bitterlich" sagte der Marienkäfer.
"Ach, wer ist das? fragten sie alle zusammen. Und das hörte sich an wie ein Chorgesang. Der Bär, der Wolf, der Fuchs waren die Bässe. Die Ziege: Tenor. Alt: Dachs und Hase. Die Maus, der Bockkäfer und der Marienkäfer: Sopran.
Und das Wehklagen dort ging weiter.
"Retten wir ihn" sagte der Bär, denn Bären haben im allgemeinen ein gutes Herz.
"Wir retten ihn" meinten der Wolf, die Ziege, der Fuchs, der Hase, der Dachs, die Maus und der Bockkäfer.
Ach ja, der Marienkäfer war der gleichen Meinung.
Denn im allgemeinen haben Wölfe, Ziegen, Füchse, Hasen, Dachse, Mäuse und Bockkäfer ein gutes Herz.
Ach ja, Marienkäfer auch!
"Aber wie retten wir ihn?" fragte der Bockkäfer.
"Ich schüttle den Baum" sagte der Bär. Der Fuchs bog sich vor Lachen.
"Ich schreie ein bißchen, und dann gibt der Baum nach" meinte der Wolf.
Der Fuchs brüllte vor Lachen.
"Man sollte ihm einen Rat geben" stotterte die Ziege.
Der Fuchs lachte gackernd.
"Man muß einen Hubschrauber mieten" sagte der Hase.
Der Fuchs jaulte vor Lachen.
"Man muß bis auf den Ast springen" riet der Dachs.
Der Fuchs heulte vor Lachen.
"Oder so was" meldete sich selbstsicher der Bockkäfer.
Der Fuchs lachte keuchend.
"Warum brüllst du, gackerst du, jaulst du, heulst du, keuchst du vor Lachen" sagte der Marienkäfer böse. Sag lieber, wie wir ihn retten!"
"Hast du denn keine Idee?" fragte der Fuchs.
"Aber sicher" sagte der Marienkäfer. Jeder klettert dem anderen auf den Rücken, bis wir an ihn rankommen."
"Na siehst du" sagte der Fuchs, "du hast nicht nur sieben Punkte, sondern auch ein helles Köpfchen."
Also wurde beschlossen, daß sie einander auf den Rücken kletterten. Eine Weile lang stritten sie sich, wer ganz unten stehen sollte. Der Hase wollte den Fuchs, der Dachs die Maus, die Ziege den Marienkäfer.
"Ich will nicht schon wieder vor Lachen zusammenbrechen" sagte der Fuchs. "Wir müssen uns so aufstellen: Unten der Bär, auf ihm der Wolf, auf ihm die Ziege, auf der Ziege der Dachs, dann der Hase..."
"Hoho" mischte sich der Marienkäfer ein. "Eher so, daß du auf der Ziege stehst, auf dir der Dachs, dann der Hase."
"Na gut" gab der Fuchs nach, "also auf mir der Dachs, auf dem Dachs der Hase, darauf die Maus, dann der Bockkäfer, und ganz oben der Marienkäfer. Der reicht dann bis zu dem, der da oben heult."
Ja, dann sprangen sie sich gegenseitig auf den Rücken. Ganz oben der Marienkäfer.
"Eine Raupe" rief er.
"Kommst du ran?" fragten die übrigen.
Der Marienkäfer streckte sich, aber ein winziges Stückchen fehlte. Traurig rief er: "Wir bräuchten noch eine Ameise. Eine winzige Ameise. Wenn sie auf meinen Rücken steigen würde, könnte sie eben so drankommen."
"Du siehst doch" sagte der Bockkäfer düster, "ich hätte ganz oben stehen sollen. Ich bin größer als du, ich würde gerade rankommen."
Der Fuchs fing schon wieder an zu wiehern.
"Hör auf zu kichern, davon wackelt meine Leber" knurrte der Dachs.
Oben ärgerte sich der Marienkäfer. "Du bist ja so blöd, du verbockter Käfer, glaubst du, wir wären größer, wenn du ganz oben wärst?"
"Na klar" sagte der Bockkäfer.
"Na gut, dann tauschen wir eben Plätze."
Sie tauschten die Plätze, der Bockkäfer stellte sich auf den Marienkäfer, aber er kam genausowenig an die Raupe heran wie der Marienkäfer.
"Komisch, dabei bin ich doch größer als du" meinte er verwundert.
Der Dachs schrie voller Schmerz: "Meine Leber!"
Darauf fing der Fuchs wieder an zu wiehern. Die Raupe, die auf dem Baum in der Klemme saß, heulte, weinte, jaulte. Sie drückte sich dicht an den Baum.
"Du meintest, daß man jetzt eine Ameise bräuchte?" fragte der Bär von unten. Ein bißchen keuchte er dabei, denn der Wolf, der Fuchs, die Ziege, der Dachs, der Hase, die Maus, der Bockkäfer und der Marienkäfer waren nicht gerade leicht.
"Ja, eine Ameise" sagte der Marienkäfer, "eine winzigkleine Ameise, egal wie klein sie ist."
"He, Ameise! Ameise! Komm her, Ameise!" riefen sie alle zusammen.
Aber es war umsonst, denn eben ging gerade keine Ameise vorbei. Oder falls sie doch dort gewesen ist, wollte sie nicht helfen. Aber im allgemeinen haben die Ameisen eben doch ein gutes Herz!
Eine Ameise, eine winzigkleine Ameise, egal wie klein sie ist!
So also gelang es nicht, die Raupe zu retten. Sie weinte bitterlich.


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